Jugendlicher Leichtsinn auch bei Vögeln?

„In unserem Bad sitzt ein Reiher, also bitte nicht benutzen.“ Mit dieser SMS beginnt für mich die Geschichte mit dem „reihernden Günter“. Das hört sich nicht appetitlich an, aber ein bisschen eklig geht es in der Geschichte eben zu, wenn sie auch vorerst gut endet. Mehr erfahre ich erst nach der Biodiversitäts-Veranstaltung des Naturschutzbeirats mit der Stadt Darmstadt.Aber beginnen wir von vorn.

 

Am Mittwoch entdeckt Herr Heil von der HSE in der Kläranlage der Gemeinde Messel einen ungewöhnlichen Gast. Ein junger Graureiher hat sich im Absetzbecken niedergelassen. Es kommt öfter vor, dass Vögel einfliegen. Irgendwann verschwinden sie auch wieder von selbst. Also wartet er ab. Am Donnerstag ist der Reiher immer noch da und klammert sich knapp unter der Wasseroberfläche an einen flexiblen Schlauch. Jetzt alarmiert der HSE-Mann die Gemeinde, die ihn an den NABU verweist.

 

Friededore Abt-Voigt macht sich auf den Weg. Ein Reiher im Becken, das kann doch keine große Sache sein. Aber wer nie in einer Kläranlage war, kennt sie nicht, die hohen Behälter mit stinkender Brühe. In diesem Fall ist das Schwimmbassin des Reihers 6 m hoch, rund  mit über 15 m Durchmesser, zugänglich nur über zwei fest montierte Leitern, eine außen, eine innen. Da muss ein geübter Kletterer her, Hugo Schnur bietet seine Hilfe an. Inzwischen ist bei HSE Schichtwechsel: Herr Franzreb stellt Wathose und Handschuhe bereit.

So gegen die aggressive Brühe geschützt, startet Hugo Schnur die Versuche den Reiherteenie einzufangen. Doch der nimmt die Hilfe nicht an, sondern schwimmt in die entgegengesetzte Richtung davon. Glücklicherweise sind Menschen schneller lernfähig als Reiher. So wird nach zwei Stunden vergeblicher Mühe ein Netz über den inzwischen arg verschmutzten Vogel geworfen. Hugo Schnur, an der Leiter sicher angeschnallt, kann ihn packen und stopft ihn in einen mitgebrachten Jutesack. An einem Seil wird der Unglücksreiher nach oben gezogen.


Dort wartet auf beide, auf Hugo und den „reihernden Günter“, zunächst eine Wäsche. Während der Mann still hält, muss der Vogel festgehalten werden. Da seine Waffe der lange spitze Schnabel ist, packt ihn Hugo Schnur zunächst dort und hält ihm mit einem Tuch die Augen zu. Dunkelheit beruhigt viele Wildtiere, auch das ein Unterschied zu vielen Menschen. Friededore Abt-Voigt betätigt sich als Pflegekraft und säubert mit der Schlauchbürste und viel, viel Wasser das Gefieder von der konzentrierten Abwasserbrühe. Inzwischen ist der Vogel vom Stress einigermaßen matt und wehrt sich nicht mehr.


Doch wohin mit einem nassen Vogel dieser Größe? Rasch wird noch eine große Portion Tiefkühlfisch besorgt, damit das hungrige Tier zu Kräften kommen kann. Als Behelfsvoliere dient oben genanntes Bad, denn eine Badewanne lässt sich in einem Privathaushalt am leichtesten reinigen. Zuerst ist das Föhnen an der Reihe, damit die Federn trocknen und sich das Tier nicht erkältet. Von dem inzwischen aufgetauten Fisch will er jedoch nichts wissen, also werden ihm die Filetstücke zwangsweise tief in den Schlund geschoben. Doch diese Ernährungsweise klappt nicht. Der Vogel schluckt zwar, aber nach einiger Zeit „reihert“ er, bis alles wieder draußen ist.

Da sind die Erfahrungen der Tierärztin einer Auffangstation hilfreich. Ja, es ist häufig so, dass Reiher reihern, also das Futter nicht drin behalten, obwohl sie hungern. Man muss ihnen eine Sonde legen und sie mit Flüssignahrung versorgen, damit sie sich erholen, keine Sache für Laien. So kommt es, dass der Graureiher nach einer Nacht im Absetzbecken noch eine Nacht in der Badewanne verbringt, wo ich ihn abends kennenlerne. Ein zweiter Versuch, ihn mit Fisch zu füttern, schlägt ebenfalls fehl. Die an mich gerichtete Warnung, das Bad nicht zu benutzen, ist überflüssig. Es riecht streng nach Fisch und überall hat der Vogel Kot und Daunen aus seinem Federkleid verteilt. Also wird nur noch weggeräumt, was Schaden leiden oder ihn verletzen könnte. Und angesichts des schwül-heißen Wetters gibt es ja zum Glück noch ein Gästebad.


Am Freitag fährt die Pflegemutter mit dem Vogel nach Darmstadt zum Tierarzt, flüssige Seniorenersatznahrung im Gepäck. Dazu hat die Tierärztin am Vortag geraten. Die Apotheke hat nur die Schokosorte vorrätig, dann muss es eben diese sein. Der Tierarzt macht erst einmal klar, wie lang so ein Reiherhals ist, dann wird das Tier intubiert. Durch den Schlauch gelangt der Schokoshake mit verquirltem Ei bis in den Magen, wo das meiste auch verbleibt.


Dass sich der Reiher wieder erholt, zeigt sich in der Wohnung. Er verlässt ohne zu fragen sein Quartier in der Waschbütte, indem er den darauf liegenden Deckel lüpft und aus dem T-Shirt (Sackersatz) schlüpft. In der Küche hinterlässt er ein paar Aufforderungen zur Bodenreinigung: Da sein Schnabel vom Tierarztbesuch noch zusammengeklebt ist, kann er nicht so richtig reihern, sondern durch Kopfschütteln nur einige Schokospritzer verteilen.


Die Freilassung ist mit der NAJU-Gruppe geplant. Die Jungs beobachten, wie für den Transport der Schnabel wieder verklebt wird, damit niemand attackiert werden kann. Außerdem erhält der Reiher von der NAJU einen Namen. Warum ausgerechnet „Günter“? Zum Glück bekommt er wenigstens einen anderen Erstnamen als ich, nämlich „reihernder Günter“.Ein bisschen Wasser noch mit der Pipette, dann geht es los zum hinteren Teil der Grube Messel, der ruhigen Grubenhalde. Zur Wiedererkennung werden die Beine noch mit roten Nagellackflecken versehen. Dann verabschiedet sich die Gruppe. Auf dem Fahrweg beginnt die Freiheit.

Torkelnd spaziert „Günter“ ein paar Schritte durchs Gras. Dann macht er schon wieder einen entscheidenden Fehler. Er spaziert direkt auf den Grubenzaun zu und verheddert sich in Dornen. Friededore Abt-Voigt muss ihn auch davon befreien. Als Dank dafür reißt er ihr den Hut vom Kopf, weil sie nicht sofort seinen Schnabel zu packen kriegt. Sie trägt ihn direkt in einen der flachen Teiche. Hier setzt sich der jetzt nicht mehr reihernde „Günter“ erst einmal in den Schlamm, steht dann aber auf und läuft langsam zwischen die Rohrkolben, wo sich Frösche bemerkbar machen. Er trinkt etwas Wasser und verschwindet dann im Grün der Halme.


Wir wünschen ihm, dass er wieder zu Kräften kommt und überlebt. Vielleicht sehen wir ihn sogar wieder.

Hans Günter Abt, Messel im Juli 2015